Die Persönlichkeitsdimension Introversion
Allein zu Haus. Foto: pixabay
Ich will Ihnen einmal am Beispiel der Persönlichkeitsdimension Introversion zeigen (es ist nur eine Dimension unter anderen!), wie wichtig es ist, sich selbst hinreichend zu kennen. Wenn man wenig von sich weiß, dann fällt es schwer herauszufinden, was man wirklich, wirklich will. Sich selbst zu erkennen ist ein erster wichtiger Schritt.
Was bedeutet Introversion?
Introversion und Extraversion sind angeborene Veranlagungen und bleiben im Verlauf des Lebens relativ stabil. Introvertierte und extravertierte Menschen brauchen ein unterschiedliches Maß an äußeren Reizen, um sich wohlzufühlen und handlungsfähig zu bleiben. Ihre Energie beziehen sie aus unterschiedlichen Quellen. Introvertierte richten ihre Aufmerksamkeit am liebsten nach innen, sind tiefsinnig, häufig sehr kreativ und laden, wenn sie sich erschöpft haben, ihre Batterien wieder auf, indem sie sich zurückziehen, allein sind, ein Buch lesen, spazieren gehen. Der Extravertierte lädt seine Batterien auf, indem er mit anderen Menschen zusammen ist.
Bei dem, was ich hier auf diesen Seiten schreibe, folge ich dieser Definition. Alles andere verwirrt nur.
Was bedeutet es nicht?
Introversion bedeutet nicht, dass man schüchtern* sei, nicht in der Lage, mit anderen Menschen gute Gespräche zu führen (das Gegenteil ist meist der Fall) oder ängstlich, was das Reden vor einer größeren Gruppe angeht. All das kann auch der Fall sein, Introversion aber ist anders definiert.
Ist introvertiert und zurückhaltend redundant?
Introversion bedeutet nicht, dass man notwendigerweise zurückhaltend ist, sondern dass man den Rückzug, die Stille, die Einsamkeit braucht, um seine Batterien aufzuladen. Extravertierte Menschen brauchen dazu andere Menschen. Ein Beispiel aus dem beruflichen Kontext: Natürlich sind die meisten introvertierten Menschen in Führungspositionen eher zurückhaltend, weil es für sie anstrengend ist, „mit Druck” zu führen. Es gibt aber auch solche introvertierten Führungskräfte, die im Job „schauspielern”, denen man Ihre Introversion kaum anmerkt, und die sich dann immer wieder, irgendwo, in aller Stille, davon erholen müssen. Viele introvertierte Menschen mit hoher Führungsverantwortung (Beispiel: der ehemalige amerikanische Präsident Barack Obama) haben sich expressives Verhalten in der Öffentlichkeit regelrecht antrainiert, brauchen aber immer wieder den Rückzug ins Private und arbeiten gern allein.
Was fällt introvertierten Menschen in der Regel nicht so leicht?
Der ungezwungene Umgang mit ihnen fremden Menschen, Smalltalk, freies Reden, im Mittelpunkt stehen, aufgesetzt freundlich lächeln (auch wenn sie innerlich heiter sind), Networking, Kaltakquise, unentwegt Gespräche initiieren, alles Laute, Schnelle, Wechselhafte, spontanes Entscheiden.
Was fällt ihnen leichter?
Innehalten, Reflektieren, Beobachten, Zuhören, Schreiben, wertschätzendes Feedback geben, Empathie, motivierende Einzelgespräche führen, still sein, Ruhe ausstrahlen, verbindlich sein, planen, bedachtes Handeln.
Sind Sie introvertiert?
Erstaunlich viele Menschen sind sich ihrer inneren Organisation und ihrer Persönlichkeitsmerkmale nur wenig bewusst. Ich erlebe häufig, dass Klienten normales eigenes Verhalten pathologisieren, nur weil die Kollegen sich mehrheitlich ganz anders verhalten. Da wundert sich der introvertierte Vertriebler, dass ihm Kaltakquise ein Graus ist oder das abendliche Bier im Kreise lärmender Kollegen. Oder der extravertierte Steuerberater, der allein hinter seinem Schreibtisch verkümmert und nicht realisiert, dass ihm Gesellschaft fehlt.
Starke Hinweise auf Introversion
Was, nach einigem Nachdenken, trifft auf Sie zu?
Sie schreiben lieber eine Mail, als dass Sie zum Telefonhörer greifen
Mit neuen, Ihnen noch unbekannten Kollegen kommen Sie nicht so leicht ins gesprächige Plaudern
Es braucht seine Zeit, bis Sie jemandem vertrauen
Sie haben eher wenige, aber gute Freunde, Ihr Freundeskreis ist sehr überschaubar
Sie führen lieber ein Gespräch unter vier Augen als im Großraumbüro, wo alle Sie hören
Sie arbeiten lieber oder zumindest sehr gern allein
Lieber gründlich als so schnell wie möglich
Sie erzählen eher realistisch als allzu überschwänglich
Sie denken erst und reden dann – wenn überhaupt
Sie denken erst und handeln dann – noch nicht
Nach vielen oberflächlichen Gesprächen in Folge brauchen Sie Ihre Ruhe
Privates erzählen Sie, wenn überhaupt, Ihren Freunden und nicht Fremden (und nur in gut begründeten Einzelfällen öffentlich im Web)
Small Talk ist nicht Ihre Kernkompetenz
Sie brauchen, wenn Sie emotional erschöpft sind, Einsamkeit, Ruhe und Stille, um Ihre Batterien wieder aufzuladen und sich zu erholen
Je mehr davon auf Sie zutrifft, desto introvertierter sind Sie. Wie so oft finden wir auch hier eine Normalverteilungskurve. In der Mitte tummeln sich die meisten. Wenn vieles hier auf Sie zutrifft, sind Sie deutlich introvertiert.
Noch einige weitere Hinweise auf Introversion:Sie fühlen sich manchmal sehr verloren und allein in großen Menschenmengen
Extravertierte Kollegen finden, dass Sie sehr intensiv sind
Sie langweilen sich selten
Networking („Never Eat Alone”), um Ihre Karriere zu befördern, erscheint Ihnen unaufrichtig
Eine Rede vor Hunderttausenden schreckt Sie weit weniger als die Aufforderung auf einer Party, doch auch mal was zu sagen
Sie lieben Ihren extravertierten Partner, weil er so anders ist als Sie, verstehen aber nicht wirklich, wie man so laut leben kann
Sie haben einen sehr ausgeprägten inneren Monolog, eine innere Stimme, die alles kommentiert
Sie denken eher abstrakt konzeptionell, als dass Sie praktisch handeln
Sie lesen gern und viel, auch Bücher, nicht nur die tagesaktuelle Presse
Sie haben tatsächlich bis hierher gelesen, ohne nach zwölf Sekunden ungeduldig weiterzuklicken (nicht abgesichertes, aber eindeutiges Kriterium ;-)
* Schüchternheit ist eine veränderbare soziale Angst, Introversion ein weitgehend stabiles Persönlichkeitsmerkmal.